Wie wird die Pflegebedürftigkeit festgestellt?

Im Mittelpunkt der Pflegebegutachtung steht die Frage, wie selbstständig die pflegebedürftige Person bei der Bewältigung ihres Alltags ist: Was kann sie und was kann sie nicht mehr? Und wobei braucht sie Unterstützung? Dazu werden die Fähigkeiten umfassend in Bezug auf folgende Lebensbereiche begutachtet: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Umgang mit krankheitsbedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte.

In welcher Form finden die Begutachtungen statt?

Die Begutachtung findet in der Regel als persönliches Gespräch mit einer Gutachterin oder einem Gutachter des Medizinischen Dienstes statt. Das kann als Hausbesuch oder als Telefoninterview erfolgen. Die Erstbegutachtung findet immer als Hausbesuch statt, damit die Gutachterin oder der Gutachter vor Ort schauen kann, ob und wie selbstständig die versicherte Person ihren Alltag gestalten kann. Auf dieser Basis ist für Wiederholungsbegutachtungen und Begutachtungen von Höherstufungsanträgen das telefonische Interview besonders gut geeignet.

Wonach wird beurteilt, ob ein Mensch pflegebedürftig ist?

Maßgeblich für das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit sind die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in den nachfolgenden sechs Bereichen:

1. Mobilität Wie selbstständig kann der Mensch sich fortbewegen und seine Körperhaltung ändern?
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten Wie findet sich der Mensch in seinem Alltag örtlich und zeitlich zurecht? Kann er für sich selbst Entscheidungen treffen? Kann die Person Gespräche führen und Bedürfnisse mitteilen?
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen Wie häufig benötigt der Mensch Hilfe aufgrund von psychischen Problemen, wie etwa aggressivem oder ängstlichem Verhalten?
4. Selbstversorgung Wie selbstständig kann sich der Mensch im Alltag versorgen bei der Körperpflege, beim Essen und Trinken?
5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen Welche Unterstützung benötigt der Mensch beim Umgang mit der Krankheit und bei Behandlungen? Zum Beispiel Medikamentengabe, Verbandswechsel, Dialyse, Beatmung?
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte Wie selbstständig kann der Mensch noch den Tagesablauf planen oder Kontakte pflegen?

Aufgrund einer Gesamtbewertung aller Fähigkeiten und Beeinträchtigungen erfolgt die Zuordnung zu einem der fünf Pflegegrade.

Wie errechnet sich der jeweilige Pflegegrad?

Die Zuordnung zu einem Pflegegrad erfolgt anhand eines Punktesystems. Dazu werden in den sechs Bereichen Punkte vergeben. Die Höhe der Punkte orientiert sich daran, wie sehr die Selbstständigkeit in dem jeweiligen Lebensbereich eingeschränkt ist. Grundsätzlich gilt: Je höher die Punktzahl, desto schwerwiegender die Beeinträchtigung.

Die innerhalb eines Bereiches für die verschiedenen Kriterien vergebenen Punkte werden zusammengezählt und gewichtet. Denn entsprechend ihrer Bedeutung für den Alltag fließen die Ergebnisse aus den einzelnen Bereichen unterschiedlich stark in die Berechnung des Pflegegrades ein. Beispielsweise der Bereich „Selbstversorgung“ mit 40 Prozent oder der Bereich „Mobilität“ mit 10 Prozent. Die Gewichtung bewirkt, dass die Schwere der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten von Personen mit körperlichen Defiziten einerseits und kognitiven oder psychischen Defiziten andererseits sachgerecht und angemessen bei der Berechnung des Gesamtpunktwertes berücksichtigt werden. Aus dem Gesamtpunktwert wird das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit bestimmt und der Pflegegrad abgeleitet.

Eine Besonderheit besteht darin, dass entweder der Bereich 2 (Kognitive und kommunikative Fähigkeiten) oder der Bereich 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen), in die Berechnung des Gesamtpunktwertes eingeht. Gewertet wird der Bereich mit den höheren Punkten.

Wann liegt Pflegebedürftigkeit vor?

Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn der Gesamtpunktwert mindestens 12,5 Punkte beträgt. Der Grad der Pflegebedürftigkeit bestimmt sich wie folgt: 

Pflegegrad 1: 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkte geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 2: 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte erhebliche Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 3: 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkte schwere Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 4: 70 bis unter 90 Gesamtpunkte schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten
Pflegegrad 5: 90 bis 100 Gesamtpunkte schwerste Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung

Pflegebedürftige Kinder im Alter bis zu 18 Monaten werden pauschal einen Pflegegrad höher eingestuft.

Pflegebedürftige, die einen spezifischen, außergewöhnlich hohen personellen Unterstützungsbedarf mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung aufweisen, werden unabhängig vom Erreichen des Schwellenwertes von 90 Punkten dem Pflegegrad 5 zugeordnet. Diese sogenannte besondere Bedarfskonstellation liegt nur beim vollständigen Verlust der Greif-, Steh- und Gehfunktionen vor.

Wonach beurteilt sich die Pflegebedürftigkeit von Kindern?

Die Feststellung von Pflegebedürftigkeit bei Kindern folgt grundsätzlich den gleichen Prinzipien wie bei Erwachsenen. Auch bei Kindern beurteilt sich die Pflegebedürftigkeit danach, wie selbstständig ein Kind ist und in welchem Umfang Fähigkeiten vorhanden sind. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass Erwachsene im Laufe ihres Lebens durch Krankheit und Behinderung Fähigkeiten und Selbstständigkeit verlieren, Kinder hingegen müssen Fähigkeiten und Selbstständigkeit erst schrittweise entwickeln. Die Begutachtung von Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr erfolgt immer im Hausbesuch.

Bei der Beurteilung von Pflegebedürftigkeit von Kindern werden die Selbstständigkeit bzw. die Fähigkeiten des pflegebedürftigen Kindes mit denen eines gesunden, gleichaltrigen Kindes verglichen. Dieser Beurteilungsgrundsatz gilt grundsätzlich für Kinder aller Altersgruppen.

Eine Ausnahme bilden pflegebedürftige Kinder im Alter von bis zu 18 Monaten. Kinder dieser Altersgruppe sind von Natur aus in allen Bereichen des Alltagslebens unselbstständig, so dass sie in der Regel keine oder nur niedrige Pflegegrade erreichen könnten. Um sicherzustellen, dass auch diese Kinder einen fachlich angemessenen Pflegegrad erlangen können, werden zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit die altersunabhängigen Bereiche 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) und 5 (Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) herangezogen. Außerdem ist die Frage zu beantworten, ob gravierende Probleme bei der Nahrungsaufnahme bestehen, die einen außergewöhnlichen pflegeintensiven Hilfebedarf im Bereich der Ernährung auslösen. Darüber hinaus sieht eine Sonderregelung vor, Kinder im Alter von bis zu 18 Monaten pauschal einen Pflegegrad höher einzustufen, als bei der Begutachtung festgestellt. In diesem Pflegegrad können sie ohne weitere Begutachtung bis zum 18. Lebensmonat verbleiben. Nach dem 18. Lebensmonat werden diese Kinder älteren Kindern und Erwachsenen in der Bewertung gleichgestellt.

Ab einem Alter von elf Jahren kann ein Kind in allen Bereichen, die in die Berechnung des Pflegegrads eingehen, selbstständig sein. Für Kinder in diesem Alter gelten dann dieselben pflegegradrelevanten Berechnungsvorschriften wie bei Erwachsenen.

Welche Bedeutung haben Prävention und Rehabilitation in der Pflegebegutachtung?

Leistungen der Prävention und Rehabilitation können dazu beitragen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder eine Verschlechterung hinauszuzögern. Deshalb haben die Gutachterinnen und Gutachter bei der Pflegebegutachtung auch zu prüfen, ob präventive oder rehabilitative Leistungen im Einzelfall sinnvoll sind und können daher Empfehlungen für entsprechende Maßnahmen abgeben. Die Gutachterinnen und Gutachter haben eine Aussage darüber zu treffen, ob in der häuslichen Umgebung oder in der Einrichtung, in der die pflegebedürftige Person lebt, präventive Maßnahmen empfohlen werden können. Sie sollten auch klären, ob Beratungsbedarf zu primärpräventiven Maßnahmen besteht. Primärpräventive Maßnahmen sind z.B. Gruppenangebote zur Sturzprävention oder zur Beseitigung von Mangel- oder Fehlernährung. Die Feststellung des Rehabilitationsbedarfs erfolgt bei der Pflegebegutachtung in allen Medizinischen Diensten auf der Grundlage eines bundeseinheitlichen, strukturierten Verfahrens, dem sogenannten optimierten Begutachtungsstandard.

Haben Versicherte Anspruch auf Pflegeberatung?

Pflegebedürftige Personen und ihre Angehörigen haben einen Anspruch auf Pflegeberatung durch die Pflegekassen. Die Beratung soll ihnen helfen, die Leistungen aus der Pflegeversicherung nach ihren Bedürfnissen und Wünschen zusammenzustellen und die Pflege zu organisieren. Hierfür bieten die Pflegekassen pflegebedürftigen Personen bzw. ihren An- und Zugehörigen innerhalb von zwei Wochen nach der Antragstellung eine Pflegeberatung an. Die Pflegekassen benennen feste Ansprechpersonen für die Pflegeberatung vor Ort.

Dokumente zum Thema

  • Fragen und Antworten zur Pflegebegutachtung durch den Medizinischen Dienst

    Info-Papier

    Download PDF (454 KB)

  • Das neue Begutachtungsinstrument: Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit

    Fachinformation

    Die Broschüre erläutert ausführlich und anhand von Fallbeispielen das neue Begutachtungsinstrument mit dem ab 1. Januar 2017 der Grad der Pflegebedürftigkeit festgestellt wird. Darüber hinaus werden auch Fragen zum Begutachtungsverfahren erläutert.

    Download PDF (1,13 MB)

  • Das neue Begutachtungsinstrument: Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit (Kurzfassung)

    Fachinformation

    Kurzfassung der Fachinformation "Die Selbstständigkeit als Maß der Pflegebedürftigkeit" auf 7 Seiten. Diese Version richtet sich vor allem an Ärzte und medizinisches Personal.

    Download PDF (312 KB)

  • Richtlinien des Medizinischen Dienstes Bund zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI vom 21. Dezember 2023

    Richtlinien / Grundlagen der Begutachtung

    Die Begutachtungs-Richtlinien wurden um das Kapitel 3.4 „Begutachtungen bei Krisensituationen von nationaler und regionaler Tragweite“ ergänzt. Sie lösen die Richtlinien vom 29. September 2023 ab. Die Richtlinien stehen ausschließlich als Download zur Verfügung, da durch das Digitalisierungsgesetz in Kürze eine weitere Überarbeitung der Richtlinien notwendig werden kann.

    Download PDF (1,06 MB)

  • Übersicht über zentrale Änderungen in den Begutachtungs-Richtlinien

    Download PDF (556 KB)

Ihre Ansprechpersonen

Dr. Andrea Kimmel

Dr. Andrea Kimmel

Beratung Pflegeversicherung
Tel: +49 201 8327 410
E-Mail:

Bernhard Fleer

Bernhard Fleer

Teamleiter Pflegebegutachtung
Tel: +49 201 8327-168
E-Mail:

Letzte Änderung:

17.11.2023